Sperrfrist
Fr, 31. Mai 2024, 11.00 Uhr

Fr
11.00–12.30
Debatten im großen Raum | Podium
Ökumene der dritten Art
Christ:innen und Nichtreligiöse im Dialog über Versöhnung
Prof. Dr. Eberhard Tiefensee, Philosoph und Theologe, Leipzig

Liebe Schwestern und Brüder „und alle dazwischen und außerhalb“!1

Wenn sie eine Partystimmung zum Absturz bringen oder eine Familienfeier sprengen wollen, dann sprechen Sie eins dieser Themen an: Gendersternchen, Klimakrise, Waffen für die Ukraine – die Aufzählung lässt sich erweitern. Früher gehörten noch prominent dazu: Coronaschutzimpfungen, Abstandsregeln. Innerkatholisch finden sich außerdem konfliktäre Themen wie: Abtreibungen ja oder nein, Gender-Ideologie, ob gleichgeschlechtliche Paare gesegnet werden können, ob der Priester beim Hochgebet so oder andersherum stehen sollte und warum das nicht auch eine Frau tun könne – auch diese Aufzählung lässt sich erweitern. Früher gehörten prominent dazu: Ob Gott Vater und Gott Sohn wesensähnlich oder wesensgleich seien2, ob der Heilige Geist (nur) vom Vater oder vom Vater und vom Sohn ausgehe3 und ob die katholische oder die evangelische die wahre Kirche sei.

Diese Veranstaltung hier zum Thema „Versöhnung“ hat laut Ankündigung und durch die Zusammensetzung des Podiums noch einige ortsnahe Themen draufgepackt, damit es nicht langweilig wird: „Christ:innen (Achtung Gendersternchen!) und Nichtreligiöse“, Ostdeutsche und der Rest der Republik. Ich hätte noch ein paar weitere Vorschläge: Antisemitismus – denn Erfurt hat im 14. Jahrhundert in einem Pogrom seine jüdische Bevölkerung massakriert und vollständig vertrieben –, Martin Luther und die Reformation – denn das Augustinerkloster ist gleich nebenan –, und wieso trotz KZ Buchenwald – von hier nur 17,4 km entfernt – in Thüringen derzeit eine Partei den größten Zuspruch hat, deren Namen ich nicht in den Mund nehmen werde. Ich breche diese Aufzählungen ab, denn sonst sind die 15 Minuten, die mir zur Verfügung stehen, schnell um, und wir gehen alle ungespeist und wahrscheinlich ziemlich aufgeregt aus dem Raum. – Kleine Zwischenfrage: Was macht momentan ihr Adrenalinspiegel?

Also noch einmal: Liebe Schwestern und Brüder „und alle dazwischen und außerhalb“!

In dieser Gemengelage bin ich gebeten, etwas zur „Ökumene der dritten Art“ zu sagen. Wegen der Kürze der Zeit muss ich leider zuspitzen und holzschnittartig bleiben – sehen Sie mir das bitte nach. Deshalb sage ich holzschnittartig: Eins haben die vorhin unvollständig aufgezählten Themen gemeinsam: Hier stehen sich oft Unversöhnlichkeiten gegenüber – ich betone: Unversöhnlichkeiten, also etwas, wo Versöhnung nicht möglich ist, allen christlichen und sonstigen Harmoniewünschen zum Trotz. Feste gegensätzliche Überzeugungen, Sichtweisen und Traditionen, sehr verschiedene Lebenseinstellungen und „existentielle Kulturen“4 mit ihren Alltagspragmatiken, oft emotional hoch aufgeladen. – Wie soll das gehen: Unverzeihliches verzeihen5, Unversöhnliches versöhnen? Wie weiter, wenn das Gegenüber auf seinem Standpunkt beharrt, ja vielleicht nicht mal einen solchen klar erkennen lässt? Denn man muss ja nicht zu allem und jedem eine feste Überzeugung haben. Wie weiter, wenn das Gegenüber von meiner eigenen gut überlegten und begründeten Meinung und Einstellung beim besten Willen und trotz aller Anstrengungen nicht zu überzeugen, ja nicht einmal zu beeinflussen ist? Wenn kein Konsens, ja nicht einmal ein Kompromiss in Sicht ist? Was ist, wenn eine fehlgegangene Vergangenheit nicht mehr auszulöschen ist? Was passiert ist, können selbst die Götter nicht ungeschehen machen, sagten die Alten. Die Verletzungen und Abbrüche, das Aus- und Gegeneinander bleiben. Solche Konstellationen meine ich im Folgenden. Ich wiederhole es noch einmal, um Missverständnisse zu vermeiden: Solche Konstellationen der Unversöhnlichkeit und Unverzeihlichkeit meine ich im Folgenden.

Pluralität ist unser Schicksal bis an die Küchen- und Kantinentische und bis in unser Inneres hinein – in jedem Christen wohnt inzwischen ein kleiner Atheist. Und niemand soll hoffen, dass das jemals wieder anders wird, sondern im Gegenteil: Die Vielfalt vervielfältigt sich. Vergleichen Sie nur mal die Anzahl der Parteien im Bundestag am Anfang und heute. So ist auch die schon erwähnte Reformation nicht wieder zurückzudrehen, sondern die Kirchenspaltungen setzen sich sogar fort bis heute. Sie kennen doch den Satz: „Das ist nicht mehr meine Kirche, ich gehe!“

Was ist damals nicht alles probiert worden: diverse Unionsverhandlungen im 16. Jahrhundert, ein dreißigjähriger Bürgerkrieg im 17. Jahrhundert, ein kalter Pluralismus durch klare Trennung der Gebiete – Bayern katholisch, Sachsen evangelisch6. Letzteres funktionierte zwar ziemlich lange, aber dann gerieten die Menschen durch die Industrialisierung in Bewegung und wohnten nicht nur durch- und miteinander, sondern heirateten auch noch: die sogenannten Mischehen. Das war die Stunde der ökumenischen Bewegung.

Wir sind beim Thema. Ich nenne die innerchristliche die Ökumene der ersten Art, die zwischen den verschiedenen Religionen Ökumene der zweiten Art (meist interreligiöser Dialog genannt, als müsste man da nur miteinander reden und nicht auch miteinander leben, arbeiten, feiern können) und Ökumene der dritten Art die zwischen Religiösen und Nichtreligiösen – jetzt sind wir endgültig beim Thema. Diese Arten sind jeweils verschieden, was ich hier nicht ausführen kann, aber es gibt Gemeinsamkeiten oder, wie die Fachleute sagen, Strukturanalogien. Und die erste Gemeinsamkeit ist: Es gibt zur Ökumene jeweils keine realistische Alternative. Einfach im Nebeneinander abgeschottet zu leben, wollen wir vielleicht, können wir aber nicht mehr, weil wie gesagt: die jeweils Anderen inzwischen nahe gerückt sind – sogar in mein Denken und Reden hinein und zuweilen auch in den Familien- und Bekanntenkreis. Vielleicht kann die Ökumene der einen Art von der anderen profitieren und etwas Produktives für die eingangs geschilderten Unversöhnlichkeiten entstehen. Lassen wir unsere Phantasie walten!

Jetzt kann ich nur ein paar Prinzipien und Erkenntnisse aus mehr als einem Jahrhundert innerchristliche Ökumene der ersten Art in unserer Region in thesenartiger Form aufzählen. Für mehr reicht die Zeit nicht.

Erstens. Gegen die Realität hilft kein Wünschen, sie stellt Aufgaben7. Wir wünschen uns, dass die schöne Vergangenheit wiederkehrt, wo die Welt noch in Ordnung war, weil es noch eine Volkskirche, eine Leitkultur oder ähnliches gab, wo die Kirchen voll und die Kinder alle getauft und verheiratet waren und … – ich breche ab: Es ist vorbei und kommt nicht wieder! Nostalgie sollten wir uns verbieten, denn wer ständig in den Rückspiegel schaut, fährt gegen den Baum. Aus Erfahrungen kann und soll man lernen, aber nicht wieder in die Vergangenheit zurück.

Zweitens. Wir kommen nicht weiter, wenn wir uns gegenseitig für mangelhaft halten. Dann müsste ich das Gegenüber ja belehren oder aufklären oder therapieren, weil es nicht auf meinem Niveau ist, oder sogar mit etwas Druck nachhelfen, wo es sich als renitent erweist. Das wäre auch heute die Stunde der Inquisition. Die funktioniert nämlich inzwischen auch ohne Scheiterhaufen. „Ich selbst“ bin natürlich auf der richtigen Seite: in der wahren Kirche – ob katholisch, evangelisch, ob Kirche von unten oder von oben. Oder ich sehe mich natürlich als besser informiert, aufgeklärt und auf der Höhe der Zeit, ich bin immer gesprächsbereit, lernfähig und offen für Neues – im Unterschied zu „x und y“, und wenn die es auch wären und nicht so dumm oder borniert oder boshaft, dann … Erinnert das nicht fatal an das Gleichnis vom Splitter und Balken? Ich gehe davon aus, dass Sie es kennen8.

Also wäre es besser, wir bemühten uns um die Anerkennung der Andersheit der Anderen9! Ihr seid eben anders, zuweilen fremd, unverständlich. Ich trete in den Austausch, um euch kennenzulernen: Wie kann man so denken und leben? Ich halte es aus, wenn es keinen Konsens gibt. Ich versuche, nicht nur tolerant zu sein, was das Mindestmaß wäre. Sondern ich liebe vielleicht sogar die Differenzen und Andersheiten, weil in der Lücke zwischen meiner und deiner Wahrheit die Wahrheit erscheint, die immer größer ist als das, was ich denke und lebe, und als das, was du denkst und lebst10.

Das alles riecht zwar nach Relativismus und Beliebigkeit, aber recht verstanden schärfen wir unsere Standpunkte aneinander, denn was katholisch ist, erfahre ich nur, wenn ich auf Evangelische treffe, was christlich ist im Kontakt mit anderen Religionen, was Religiosität ausmacht in der Auseinandersetzung mit Nichtreligiösen, und aus manchem religiös indifferenten Menschen wird vielleicht endlich ein Atheist oder eine Atheistin, das heißt: Jemand bekommt Profil, einen erkennbaren Standpunkt und wird damit gesprächsfähiger und für mich interessanter, weil eben anders.

Drittens. Maximale Zurückhaltung, wenn versucht wird, das Gegenüber auf die eigene Seite zu ziehen! Das bremst allerdings alle Missionsbemühungen, die es ja nicht nur bei Christ:innen gibt, sondern auch bei den verschiedenen Aufklärer:innen. Aber mal ganz unter uns Christgläubigen: Würde die Ökumene funktionieren, wenn das Ziel wäre, aus Protestant:innen Katholik:innen zu machen oder umgekehrt? Warum hat christliche Mission eigentlich nie zu größeren Erfolgen geführt beim Judentum, beim Islam, in Japan und in China – Ausnahmen bestätigen die Regel? Oder meint jemand im Ernst, wir könnten aus der westeuropäischen säkularen Umgebung wieder ein christliches Abendland formen, wenn wir es nur endlich richtig anfassen würden? Meinen Sie, Ihre Enkel würden in die Kirche zurückkehren, wenn wir es nur endlich richtig machten? Zu wünschen wäre es, aber gegen die Realität hilft kein Wünschen.

In der Ökumene versuchen wir stattdessen zusammenzuführen und zu integrieren, und wir sollen auch kritisch nachfragen – aus dem Geist des Evangeliums heraus. Wir können und sollen Impulse geben, Angebote machen aus dem Schatz einer jahrtausendelangen Erfahrung mit Gott und den Menschen. Aber was das Gegenüber damit macht oder nicht macht, ist seine Sache und die Sache des Heiligen Geistes. Nicht vergessen: Das alles gilt übrigens wechselseitig. Mission ist übrigens nicht Magnetismus, sondern Sendung, und auch Nichtchristen kommen in den Himmel.

Viertens. Machen wir möglichst viel gemeinsam! Die Probleme sind gewaltig und von keiner Nation, keiner Kirche etc. allein zu stemmen. Es geht also um das gemeinsame Engagement im Sozialen, im Kulturellen, im Politischen, im Religiösen auch mit der Bereitschaft, dass für meine Seite mal nichts dabei herausspringt, sondern das Gegenüber den Erfolg kassiert. Das nennt man Dienstbereitschaft oder mit dem alten Wort „Demut“. Es geht auch um gemeinsame Rituale oder Liturgien wie zum Beispiel damals hier auf dem Domplatz nach dem Amoklauf im Gutenberg-Gymnasium – das war eine ökumenische Feier der dritten Art.

Fünftens und letztens. Setzen wir uns keine unrealistischen Idealziele wie universale Einigkeit in der Menschheitsfamilie, den Weltfrieden oder die eine Christenheit …, denn das Endziel des Ganzen kennt allein Gott, dem wir das getrost überlassen sollten und auch können. Wir stecken in einem gewaltigen Transformationsprozess wie in einem Nebel, bei dem man schnell die Orientierung verliert oder auch den falschen Leuten folgt. „Folgen Sie mir nicht, ich habe mich selbst verirrt“, habe ich mal auf einem Autoheck gelesen. Also tasten wir uns vorwärts step by step, senden aber Kundschafter:innen oder Scouts in das unbekannte Gelände und warten auf Rückmeldungen z.B. von den schon erwähnten „Mischehen“, die konfessionsverbindend, religionsverbindend, lebensoptionsverbindend und schon jetzt in einer Zukunft leben, zu der wir mehrheitlich erst unterwegs sind. Und hören wir wach auf Berichte aus der Krankenhaus- und Polizeiseelsorge – um nur einige dieser Scouts zu erwähnen. Und dann aber hinterher!

Ob an den oft verhärteten Konfliktlinien der Unversöhnlichkeiten in Kirche und Gesellschaft und besonders hier in Ostdeutschland mein Verweis auf die ökumenische Bewegung und deren Erfahrungen weiterhilft, müssen Sie selbst entscheiden – jede und jeder „und alle dazwischen und außerhalb“. Ich bin gespannt auf das, was jetzt kommt, und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und Geduld.

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1 So begrüßt Jan Böhmermann im Magazin Royal des ZDF.

2 „homoiousios“ oder „homoousios“ (Erstes Konzil von Nizäa 325).

3 Der Streit um das „Filioque“, der u.a. der Grund für das Schisma zwischen Ost- und Westrom (Orthodoxie und Katholischer Kirche) 1054 war und noch ist.

4 Den Begriff habe ich von der englischen Religionssoziologin Lois Lee.

5 Die Frage stellt der französische Philosoph Jacques Derrida.

6 „Cuius regio, eius religio.“ Westfälischer Friede 1648.

7 So der österreichische Pastoraltheologe Rainer Bucher.

8 Mt 7,1-5 parr.

9 "Alterité" - Zentraler Gedanke des französischen Philosophen Emmanuel Levinas.

10 „Veritas semper maior“. Zentraler Gedanke bei dem früheren Bochumer Philosophen Richard Schaeffler, dem Gottesbeweis des Anselm von Canterbury folgend: Gott ist „das, umfassender als welches nichts zu denken möglich ist“ (aliquid (id), quo maior nihil cogitari potest).


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