Bischöfin Kirsten Fehrs, amtierende Ratsvorsitzende der Ev. Kirche in Deutschland, Hamburg
Liebe Schwestern –
es muss heute in aller Klarheit beim Namen genannt werden: Ich freue mich sehr und es ist mir eine Ehre hier mit Ihnen Gottesdienst zu feiern!! Ökumenisch herzlich verbunden als Schwestern, die wir vereint sind in unserer Sehnsucht nach Frieden. Vereint auch darin, in schwesterlicher Solidarität diesen Frieden unbeirrbar zu denken, zu handeln, ins Gebet zu nehmen – wer, wenn nicht wir sollten dies aus tiefer Hoffnung heraus tun?! Ich empfinde es gerade in diesen Zeiten als ein Geschenk, in Gemeinschaft, mit Kraft und Geistesgegenwart, mutig und klar beim Namen zu nennen, dass wir uns nicht abfinden mit gewalttätigen Despoten, Machtmissbrauch, Diskriminierung. Keine Toleranz dafür, dass die Würde von Frauen in so vielen Ländern dieser Erde mit Füßen getreten wird. So viele – rechtlos, heimatlos, hoffnungslos. So unsagbar viele, Hunderttausende pro Tag, sie bleiben namenlos.
„Ich habe dich bei deinem Namen gerufen“ (Jes 43,1) – das ist Gottes Antwort darauf. Fürchte dich nicht. Ich kenne deinen Namen – du bist mein Augenstern, ich achte auf dich. Dies alles spricht Gott ausnahmslos jedem Menschen zu – vom Anfang bis zum Ende des Lebens. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen – darin gründet deine Identität und Würde.
Und wir erleben es doch tatsächlich im Alltag: Immer, wenn unser Name gerufen wird, sind wir persönlich gemeint. Unser Name macht uns ansprechbar, nicht nur als Person, sondern als unverwechselbare Persönlichkeit. Mir passiert es, je länger ich als Bischöfin unterwegs bin, doch inzwischen häufiger, dass ich in spontanen Begegnungen zwar die Menschen erinnere, aber nicht immer ihre Namen. Ich weiß nicht, ob Ihnen das ähnlich geht, aber mir ist das immer instinktiv peinlich. Weil der Namensvergessenheit immer auch etwas Kränkendes innewohnt. Nicht genannt zu sein, kann ja schnell empfunden werden als: nicht erkannt, ja anerkannt zu sein. Und in der biblischen Geschichte, die uns heute so intensiv befasst, ist dies den Verfassern offenkundig keinesfalls eine Anfechtung: die Frau, die mit ihren Worten ein Leben rettet, sie bleibt konsequent ohne Namen.
Auf den ersten Blick ist die Geschichte schön: Der sehr angesehene, aber kranke Naaman macht sich auf den Weg, um sich heilen zu lassen und – nach einigen Umwegen, Wirrungen und Zumutungen – gesundet er und kehrt heil zurück.
Doch der zweite Blick schärft den Sinn für die Unwuchten. Nur ganz nebenbei wird erwähnt, dass sich eine – nach den Maßstäben der Zeit – völlig unbedeutende Frau zu Wort meldet und damit den Stein ins Rollen bringt. Ihr Anstoß lässt eine Heilung des Naaman überhaupt erst denkbar werden. In dem Text gibt es dazu nur wenige knappe Sätze. Wahrscheinlich wird diese Frau überhaupt nur deshalb erwähnt, weil die Geschichte ohne ihr Handeln gar nicht auskommt. Sie hat sich – wohlgemerkt als Sklavin – tatsächlich zu Wort gemeldet. Unerhört! Unerhört konnte ihr Wort aber diesmal nicht bleiben, weil es das entscheidende, rettende Wort war.
Die Frau hat Schlimmes erlebt. Sie hat keiner gerettet. Als junges Mädchen wird sie von den Aramäern als Kriegsbeute aus Israel verschleppt – und unweigerlich bekommt der Text bedrückende Aktualität. Die Verschleppte wird fortan als Sklavin gehalten. Die Frau des Naaman ist ihre Besitzerin. Beim genaueren Lesen erschreckt mich, wie oberflächlich und im wahrsten Sinne des Wortes völlig „unbekümmert“ die Geschichte über dieses Schicksal der Frau hinweggeht. Wir erfahren nichts weiter darüber, was ihr angetan wurde und vielleicht auch weiterhin angetan wird. Hier wird nichts beim Namen genannt. Dabei sind es doch gerade die Namen – so geht es mir angesichts der Kriege und Konflikte in dieser Welt durch den Sinn – die für die leidenden, verfolgten, politisch gefangenen oder getöteten Menschen Empathie in uns wecken. Namen wie Jina Mahsa Amin. Shani Louk. Mercedes Kierpacz. Shireen Abu Akleh. Maria Kolesnikowa. Say their names!
Natürlich spielt die biblische Geschichte in einer anderen Zeit. Damals gehörten Frauen ebenso wie Bedienstete zum Haus und zum Besitz des Hausherrn. Sie hatten keine eigenen Persönlichkeitsrechte und waren kaum erwähnenswert. Aber mit dem Hinweis auf graue Vorzeiten ist es
nicht getan. Denn der Beitrag von Frauen bleibt auch heute oft im Hintergrund. Unzählige Frauen haben ihre Spuren in der Geschichte hinterlassen, haben Steine ins Rollen gebracht, haben ihre damalige Gegenwart vorangetrieben und die ihnen noch ferne Zukunft maßgeblich beeinflusst. Im Rampenlicht stehen sie damit allerdings nicht. Nur wenige – meist solche mit für ihre Zeit ganz und gar außergewöhnlichem Engagement und Verhalten – haben es bis in die Geschichtsbücher geschafft.
Auch heute noch stark im Hintergrund bleiben die Gewalt und die Erniedrigungen, die Frauen erleiden – im Alltag, aber ganz besonders im Krieg. Und wenn die Gewalttaten erwähnt werden, dann in einer Sprache, die sie furchtbar verharmlost. So heißt es in der Lutherbibel über unsere namenlose Frau: „Aber die Kriegsleute der Aramäer waren ausgezogen und hatten ein junges Mädchen weggeführt aus dem Lande Israel.“ Und diese verharmlosende Sprache kennen wir auch in der Gegenwart: In Deutschland stirbt fast jeden dritten Tag eine Frau durch die Hand ihres Partners oder Ex-Partners. Die Berichterstattung spricht dann oft von einem „Familiendrama“. Erst allmählich wächst das Bewusstsein für das Ausmaß dieser Gewalt, die Frauen wegen ihres Geschlechts oder wegen bestimmter Vorstellungen von Weiblichkeit erfahren.
Ein besonderes Kapitel ist die Gewalt, vor allem sexualisierte Gewalt, die Frauen in Kriegen erleiden. Soldaten oder bewaffnete Milizen nutzen ihre Macht und den Zusammenbruch rechtsstaatlicher Kontrolle aus, um auf grausamste Weise Frauen in ihrer Integrität zu zerstören. Strafverfolgung müssen sie ja meist nicht fürchten. Aber auch unabhängig von unmittelbaren Kampfhandlungen sind Frauen in Kriegs- und Krisengebieten permanent der Gefahr ausgesetzt. Seit Jahrtausenden gibt es diese Kriegsgewalt gegen Frauen. Oft kämpfen sie jahrzehntelang um die Anerkennung ihres Leids, wie die zehntausenden sogenannten „Trostfrauen“ – (welch ein schrecklich verharmlosendes Wort!), die während des Zweiten Weltkriegs in japanische Kriegsbordelle verschleppt wurden. Erst allmählich entwickelt sich ein öffentliches Bewusstsein dafür. Auch in den aktuellen Kriegen und Terroranschlägen sind Frauen besonders von Gewalt betroffen. Es ist ein Erfolg der weitweiten Frauenrechtsbewegung, dass diese Gewalt gegen Frauen mittlerweile thematisiert und ernst genommen wird und internationale Reaktionen hervorruft.
Auch deshalb sind Gottesdienste wie diese so wichtig. Weil sie inmitten der Gewalt unsere Schritte auf den Weg des Friedens lenken. Nicht unter Absehung des Leids. Sondern genau in dessen Anerkennung! Wie sehr ist doch anzuerkennen, dass Frauen sich gerade machen, den Erniedrigungen die Stirn bieten, und das Wort ergreifen. Wie es jetzt übrigens auch geschieht von betroffenen Menschen, die sexualisierte Gewalt in unseren Kirchen erlitten haben! Richtig so – es braucht Sprechräume dafür, klare Worte und die Auseinandersetzung damit, dass und wie Gewalt in unseren Kirchen geschehen konnte.
Auch das beeindruckt mich an unserer Predigtgeschichte: Dass eine in Ohnmacht gefangene Frau sich selbstbestimmt das Recht herausnimmt, ihren Mund aufzumachen. Sie vertraut darauf, dass ihr Wort etwas verändern kann. Und wie es das tut! Gerade sie ist es – und nicht die Mächtigen – die Naaman zum Segen wird. Was für eine Umkehr. In der Friedensgeste Iiegt die eigentliche Macht! Ich liebe das Subversive unseres Glaubens. Die Welt wird auf den Kopf gestellt. Aus oben wird unten, aus Macht wird Ohnmacht, aus Nebenrollen werden Hauptrollen. So auch sind es die Ratschläge von Naamans Bediensteten, die dazu führen, dass er Schwäche zeigt, dass er seine Rüstung ablegt und dass er so wieder gesundet. Der Aussatz verschwindet weder durch militärische Stärke noch durch politisches Kalkül, nein: Naaman wird heil dadurch, dass er sich bedürftig zeigt, dass er Hilfe annimmt, dass er Mensch unter Menschen wird – ein Mitmensch.
Und so bedenken wir nicht nur, wir feiern heute in dieser schwesterlichen Gemeinschaft eine Geschichte gegen die Ohnmacht, eine Geschichte gegen die Resignation und gegen das Gefühl, doch nichts ändern zu können. Eine Geschichte über das Vertrauen in die Kraft, die uns nicht verzagen lässt. Auch wenn wir die Probleme als übermächtig empfinden, wenn wir verzweifeln am Leid dieser Welt, wenn wir meinen, dass all unser Einsatz viel zu langsam viel zu wenig zu verändern scheint – unser Tun ist eben nicht vergeblich. Jeder Einsatz für den Frieden macht einen Unterschied, also: Lassen wir uns in Bewegung bringen. Nennen wir‘s beim Namen: So oft bedeutet ein mutmachendes Wort alles. Und manchmal verändert es sogar die Naamans dieser Welt. Dass sie verlernen Krieg zu führen und dem Frieden das Herz zu öffnen.
Gottes Frieden, höher als alle Vernunft, er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
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