Jüdisch-christlicher Dialog | Jüdisch-christliche Gemeinschaftsfeier
Prof. Dr. Andreas Nachama, Rabbiner und Vorsitzender des Gesprächskreises Juden und Christen beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken, Berlin
Bischof Dr. Ulrich Neymeyr, Erfurt
1. Aus jüdischer Perspektive
Die neuere jüdische Psalmforschung geht davon aus, dass der Psalm 37 als erbauende Weisheitsliteratur in Gottesdiensten vorgetragen wurde, in denen kein Prediger zugegen war1.
Der Psalm 37 gliedert sich in fünf Abschnitte:
Wir haben gerade den fünften und letzten Teil dieses Psalms gelesen:
Der Psalmist bestärkt die Menschen, Gott zu vertrauen und bei ihm Zuflucht zu suchen. – "Er wird sie (=die Gerechten) von den Gottlosen erretten und ihnen helfen, denn sie trauen auf ihn."
2. Aus christlicher Perspektive
Der Psalm 37 wird im Stundengebet der katholischen Kirche alle vier Wochen am Morgen gebetet. Er wird dabei in drei Teile aufgeteilt, die nacheinander gebetet werden. So bleibt das Ringen des Psalmisten lebendig zum Schicksal des Gerechten und des Frevlers.
3. Jüdische Einsichten 1
שְׁמׇר־תָּ֭ם
Beobachte Rechtschaffenheit
וּרְאֵ֣ה יָשָׁ֑ר
und sehe auf Redlichkeit
Man stelle sich das so vor wie heute:
Auch der Psalmist lebte in einer Welt, die viele beklagenswerte Umstände hatte. Der Rücksichtslose übervorteile die Witwen und elternlosen Kinder, die Starken schlugen die Schwachen und wie viele Verbrechen blieben ungesühnt?
Da predigt der Psalmist: Schau nicht hin, nimm Dir an den Krummen und Gewalttätigen kein Beispiel, schau im Gegenteil auf die, die ein Vorbild sein könnten. So erklärt Rabbi Schlomo Jizchaki, kurz Raschi, der in Troyes von 1040 bis 1105 lebte, der einen Teil seines Lebens in Worms verbracht hat, den ersten Teil unseres Psalmenverses.
Dann kommt die zweite Zeile des Verses, der in aller Regel auch den ersten interpretiert:
כִּֽי־אַחֲרִ֖ית לְאִ֣ישׁ שָׁלֽוֹם
denn Zukunft hat der Mensch des Friedens
Raschi schreibt dazu:
Wir wissen nichts über das Entstehen eines Menschen des Friedens, ob er in Frieden oder Krieg aufgewachsen ist, aber wir wissen, dass der Rechtschaffende am Ende seines Schaffens Frieden finden wird.
Schalom – Frieden?
In Europa?
Im Nahen Osten?
Diese Eruption von Gewalt in und um Israel ist das Gegenteil dessen, was das Heilige Land der drei abrahamitischen Religionen braucht, nämlich Frieden. Frieden für die ganze Region. Auch dafür beten wir jetzt hier gemeinsam.
Dabei bedeutet Frieden – also umfassendes Heil – in der jüdischen Tradition zuallererst, die oft gegensätzlichen Positionen zu versöhnen.
שְׁמׇר־תָּ֭ם
Beobachte Rechtschaffenheit
וּרְאֵ֣ה יָשָׁ֑ר
und sehe auf Redlichkeit
Das Streben nach einem gewaltlosen Miteinander befürworten die rabbinischen Gelehrten des Talmud auf allen Ebenen menschlicher Beziehungen:
• Frieden solle sowohl zwischen den Ehepartnern,
• zwischen Eltern und Kindern
• als auch zwischen Städten und Nationen.
Gleichwohl verbietet es sich, die Position der jüdischen Tradition als rein pazifistisch zu kennzeichnen. Die rabbinischen Autoritäten kennen den universalen Frieden nur als Verheißung für das messianische Zeitalter, in dem der Krieg als Mittel der Auseinandersetzung verbannt sein wird.
Allein schon ein Blick in die Geschichte zeigt, dass sich das Israel des Altertums in zahlreiche Kriege verwickelte. Krieg galt als ein notwendiges Übel. Die Ausübung des Kriegshandwerks führte zum Ausschluss von Teilen des religiösen Kults. Nach dem Verlust der Eigenstaatlichkeit im Jahre 70 u.Z. war das Judentum nicht mehr an gewaltsamen Konflikten zwischenstaatlicher Art beteiligt, und die Frage nach der Rechtfertigung eines Krieges stellte für die Rechtsgelehrten eine vornehmlich akademische Frage dar.
Christliche Einsichten 1
Der Krieg in der Ukraine und der Krieg in Israel und Palästina löst auch in unseren Kirchen Debatten über die Friedensethik aus: Kann der Mensch des Friedens Waffen haben? Kann der Mensch des Friedens andere mit Gewalt verteidigen? Kann der Mensch des Friedens anderen Menschen Waffen zur Verfügung stellen, damit sie sich verteidigen können? Ganz offensichtlich muss die freiheitlich-demokratische Grundordnung nach innen und nach außen verteidigt werden und es sieht so aus, als sei dies nicht ohne Gewaltanwendung möglich. Die Bischöfe des Zweiten Vatikanischen Konzils haben vor fast 70 Jahren geschrieben: „Der Frieden besteht nicht darin, dass kein Krieg ist; er lässt sich auch nicht bloß durch das Gleichgewicht entgegengesetzter Kräfte sichern; er entspringt ferner nicht dem Machtgebot eines Starken; er heißt vielmehr mit Recht und eigentlich ein ´Werk der Gerechtigkeit´. (…) Insofern die Menschen Sünder sind, droht ihnen die Gefahr des Krieges und sie wird ihnen drohen bis zur Ankunft Christi. Soweit aber die Menschen sich in Liebe vereinen und so die Sünde überwinden, überwinden sie auch die Gewaltsamkeit bis sich einmal die Worte erfüllen: „Zu Pflügen schmieden sie ihre Schwerter um, zu Winzermessern ihre Lanzen. Kein Volk zückt mehr gegen das andere das Schwert, das Kriegshandwerk gibt es nicht mehr.“ (Jesaja 2,4)
Jüdische Einsichten 2
Es ist gute jüdische Tradition vor der letzten Strophe z.B. des 18-Bitt-Gebetes, in dem eben von Frieden gesprochen wird, drei Schritte zurückzugehen, denn nur wenn man auch seine Position verändert, wenn man dem Frieden Raum gibt, kann man selbst zum Frieden beitragen. Mögen die, die über die Beendigung des Kämpfens entscheiden, sich dies zur Devise machen. Überall, wo immer Frieden erfleht wird:
Gerade werden wir Zeugen einer schrecklichen Gewalteruption im Heiligen Land. Das Töten, das Verschleppen von Kindern, Frauen, Männern aus Israel ist ein Verbrechen und mit nichts zu rechtfertigen. Diese Gewalt ist das Gegenteil dessen, was das Heilige Land der drei Religionen braucht, nämlich Frieden. Und zwar Frieden für die ganze Region – eine Utopie?
Mit Raschi sagen wir: Wer Rechtschaffenheit und Redlichkeit praktiziert wird am Ende seines Schaffens Frieden finden.
שְׁמׇר־תָּ֭ם
Beobachte Rechtschaffenheit
וּרְאֵ֣ה יָשָׁ֑ר
und sehe auf Redlichkeit
כִּֽי־אַחֲרִ֖ית לְאִ֣ישׁ שָׁלֽוֹם
denn Zukunft hat der Mensch des Friedens
Christliche Einsichten 2
Aus christlicher Sicht verheißt die Zusage, dass der Gerechte das Land erben wird, nicht ein konkretes Land auf dem Globus, sondern das messianische Friedensreich, das Jesus Christus am Ende der Welt und ihrer Geschichte errichten wird und dass er uns durch seinen Tod und seine Auferstehung erschlossen hat. Diese Hoffnung auf ein ewiges Friedensreich wird durch die Bergpredigt genährt, in der Jesus gesagt hat: „Selig, die Frieden stiften“ (Matthäus 5,9). Die Menschen, die Jesus in der Bergpredigt seliggepriesen hat, sind nach irdischen Maßstäben gerade nicht glücklich: Es sind die Armen und Trauernden, die Menschen, die Hunger und Durst haben und die, die verfolgt werden. Auch die Friedensstifter haben häufig kein leichtes Schicksal. Sie können leicht zwischen die Fronten geraten und dabei Schaden nehmen, wie man am Schicksal von Mahatma Gandhi und Martin Luther King und anderen sehen kann. Die Auszeichnung durch einen Friedenspreis ist dann oft nur ein kleiner irdischer Trost. Die Zukunft, die dem Menschen des Friedens im Psalm 37 und im Leitwort des Erfurter Katholikentags versprochen wird, ist also für uns Christen die den Friedensstiftern in der Bergpredigt verheißene Seligkeit im messianischen Friedensreich Jesu Christi.
Nun ist in Thüringen der Mehrheit der Bevölkerung Religion fremd. Wie aber ist der Satz „Zukunft hat der Mensch des Friedens“ für Menschen ohne Hoffnung aus der Religion verständlich? Entweder ist dieser Satz schlichtweg falsch oder man muss über das Wort „Zukunft“ nachdenken. Zukunft ist ja ein sehr weiter Begriff. Er reicht von der Zukunft, die wir heute Abend erleben werden, bis hin zum Ende der Welt und ihrer Geschichte. Wenn der Satz „Zukunft hat der Mensch des Friedens“ auch ohne religiösen Hintergrund verständlich sein soll, dann muss diese Perspektive auch über das Ende des eigenen Lebens hinausreichen. Da haben nämlich Mahatma Gandhi und Martin Luther King und viele andere Friedensstifter langfristig eine Zukunft der Versöhnung, des Friedens und der Gerechtigkeit eröffnet, auch wenn sie selbst die Früchte nicht ernten konnten. Den ökologischen Frieden mit der Natur werden wir ohnehin nur erreichen können, wenn wir über unsere eigene Lebenszeit hinausdenken.
finem sermoni
Wer in der Geschichte nicht an Wunder glaubt, kennt die Geschichte des Friedens nicht – wäre vor hundert Jahren denkbar gewesen, dass Deutschland und Frankreich Gründer- und Geschwisternationen eines vereinten Europas geworden sind? Und übrigens: Alle Friedensverträge, die ich kenne, wurden zwischen Feinden geschlossen.
כִּֽי־אַחֲרִ֖ית לְאִ֣ישׁ שָׁלֽוֹם
denn Zukunft hat der Mensch des Friedens
Wie stelle ich mir also Frieden im Nahen Osten vor? Dass Grenzen zwischen Israel und allen seinen Nachbarn so bedeutungslos werden wie zwischen Deutschland und Luxemburg heute. Dass Gaza wieder dafür bekannt wird, Brücke zwischen Asien und Afrika zu sein. Dass wie im Mittelalter Muslime, Christen und Juden bei- und miteinander leben. In unserer heutigen Terminologie, dass Israelis und Palästinenser geschwisterlich miteinander wohnen, ja dass außer beim Gang in die Synagoge, in die Moschee oder Kirche Religion und Herkunft oder Nationalität keine Rolle spielen.
Ich denke an David ben Gurion mit seinem so trefflichen Zitat: „Wer in diesem Land nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist!“
Mit Gottes Hilfe wird so Frieden im Heiligen Land!
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1 Hakam, Amos: The Bible Psalms. With Jerusalem Commentary, 3 Bde., Jerusalem 2003, Bd. 1, S. 295
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